Kruses Stern
Textsplitter aus:
Kruses Stern
von
jbs 2007
Der Flug ohne Rückfahrkarte endete auf den Diomedes Inseln. Weit weit entfernt jeglicher europäischer Zivilisation, die ihm in den letzten Jahren immer mehr zuwider geworden war. Und mittendrin, am Ende der Welt, auf Zeitzonen balancierend, schultert Adam Kruse sein Gepäck und macht sich auf den Weg.
Seine schlotternden Tränensäcke straffen sich im gleißenden Licht und begeistert nimmt Kruse eisige Felslandschaften wahr. Die unfassbare Schönheit arktischer Natur versöhnt seine Seele.
Seine ehemals fahrigen feuchten Finger lernen schnell. Das Lenkrad vom Ski-Doo liegt fest in den Händen, die bis vor Kurzem nur Tastaturen und Handys kannten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese bei der Robbenarbeit zuverlässig anpacken werden.
Aufgeregte Huskies begleiten seine heutige Fahrt über das Eis zum Wasserloch, an dem er nach Robben jagen will. Jaulend und bellend vor Freude über die angekündigte Ausfahrt, lassen sich die vierpfotigen Kameraden ins Geschirr legen. Die Jagd durch die Schneelandschaft beginnt. Nur noch das Fahrgeräusch des Ski-Doos unterbricht die majestetische Ruhe der Gegend.
Ich, der Jäger und Sammler, sein angedeutetes Schmunzeln verliert sich hinter winzigen Eiszapfen, die sich in seinem Vollbart gebildet haben und er lässt die rauschhafte Schönheit der Eisregion, über der sich jetzt ein Himmel wölbt, der wie eine Fata Morgana mit betörenden Farben lockt, ein neues Lebensgefühl vermitteln.
Steller hatte ihm wieder geschrieben. Von Tokio aus will er über die Diomedes Inseln nach Hause fliegen.
Wer weiß, wann oder ob man sich sonst wiedersehen wird, mailte er ihm vor Tagen.
Kruse freut sich auf den einzigen Freund, er muss ihm viel von den letzten Wochen erzählen.
Das Wasserloch, an dem die Robben von Zeit zu Zeit nach Luft schnappen, liegt einige Kilometer vom Inuitdorf entfernt. Das zeitige Frühjahr bewirkt, das die Schneeschmelze früher einsetzt. Sommer in der Beringstrasse sind nur kurz und Kruse ist gespannt, wie das Packeis sich aufdriften wird, um stündlich neue Gebilde zu entwerfen. Er wird der einzige Gast auf dieser Kunstausstellung sein. Die Vernissage ist eröffnet.
Am Wasserloch angekommen, legen sich die Hunde sofort auf den Schnee. Für kurze Zeit hört Kruse noch ihr fiepen, schlucken und hecheln, dann kehrt Ruhe ein und ihre Köpfe schlummern zwischen festen Vorderpfoten.
Kruse selbst sitzt vor der dunklen Öffnung, beobachtet kleinste Bewegungen auf der glatten Wasseroberfläche, die nur von reflektierenden Sonnenblitzen glitzert.
Krusenstern! Krusensterne! Aus der Tiefe seiner Erinnerung hört er seine Tochter rufen. Papa, zeigst du mir wieder unseren Stern am Himmel?
Immer, wenn er nach langen Arbeitstagen zu Hause abzuschalten versuchte, erzählte er Christine etwas sentimental Geschichten vom Nordmeer und den Tschuktschen und dann wartete er sehnsüchtig auf ihre plappernden Worte: „Kommt Tschurken! Kommt nur! Da ist Papa's Krusenstern!“
Sanftes Beben auf dem Eis bewegt Kruse zum Aufblicken. Die Huskies sind schlagartig hellwach. Mit gespitzten Ohren wittern sie in Südrichtung. Das Beben lässt eine ungeheure Kraft ahnen, Motorengeräusch durchschneidet die weite Stille. Ein riesiger Atomeisbrecher nimmt genau die Richtung ein, in der Kruse sitzt. Adam packt flink seine Jagdutensilien auf das Ski-Doo, gibt den Hunden Befehle und setzt mit seinem Schneefahrzeug in Richtung Dorf zurück.
Plötzlich macht er wieder Halt. Er ist neugierig. Auf diesen Kraftkoloss von Schiff. Er sucht sich eine Anhöhe, lenkt die Hunde hinauf und bekommt einen Blick über die Fahrrinne, die das Schiff frei bricht. Aus seiner Perspektive erinnern ihn die Risse auf dem Eis an ein unregelmäßiges EKG. Zielsicher fährt der Eisbrecher durch das Packeis, nicht weit dahinter kommt ein zweites Schiff zum Vorschein. Ein typisches Kreuzfahrtschiff durchzieht die vorgezogene Furche von Flocken und Eis.
Am Bug findet sich eine bunte Menschenmasse zusammen, rufend klammern sie sich an die Reling. Ihre „Aaahs“ und „Ooooh's“ liegen fett auf der kalten Polarluft und unerwartet für Kruse, zeigt plötzlich ein Finger in seine Richtung. Fotoapparate werden ausgepackt, surrende Filmkameras gesellen sich zu den „Aaaahs“ und „Oooohs“, eine in Bärenfell gekleidete Frau winkt mit einem Tuch in seine Richtung.
Adam Kruse sieht sich um. Vielleicht ein Eisbär? denkt er, und vor lauter Beobachten bemerke ich nichts? Aber nichts dergleichen entdeckt sein suchender Blick. Das Spektakel gilt ihm.
Ja, ich bin ihr Objekt. Eine willkommene Abwechselung auf ihrer Tagestour – all inklusive! In Kruse steigt Ärger auf.
Mit lautem „Ho! Ho! Ho!“ feuert er die Hunde an, startet sein Ski-Doo und steuert es Richtung Dorf.
Bis hierher verfolgen sie mich, diese diese – ach! Kruse kneift seine Lippen zusammen und mit rasender Geschwindigkeit nähert er sich seiner Inuitsiedlung. Die Kufen zischen über den Schnee.
Den Riss im Eis bemerkt er zu spät. Der ist so breit, dass er mit dem Ski-Doo hängen bleibt. Auf einer bizarr glitzernden Treibeismasse bleibt er halb betäubt liegen. Entfernt hört er, wie seine Huskies in ein vereintes Heulen und Bellen einstimmen. Er schließt seine Augen und Steller, sein alter Kumpel Willi Steller taucht auf. Dann wird alles schwarz.
Dabei wollte er ihm doch erzählen, das er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
(c)
jbs 2ooozwölf
Stichworte: Burn-Out-Gesellschaft - Innere Kündigung - Neuanfang - Zeitzone - Diomedes Inseln - Freundschaft - Beringstrasse
Aus meiner Facebook-Nachbarschaft linke ich ein Video ein und ich hoffe, es ist hier aufrufbar. Es zeigt den Eisgang vor Schlüttsiel in der Nordsee vom 16.02.2012.
Dieses Video war für mich die Inspiration, einen etwas älteren Text aus meinen Textgeburten hervorzukramen und ihn hier online zu stellen.
https://www.youtube.com/watch?v=8yNOuPSceaM
Kruses Stern
von
jbs 2007
Der Flug ohne Rückfahrkarte endete auf den Diomedes Inseln. Weit weit entfernt jeglicher europäischer Zivilisation, die ihm in den letzten Jahren immer mehr zuwider geworden war. Und mittendrin, am Ende der Welt, auf Zeitzonen balancierend, schultert Adam Kruse sein Gepäck und macht sich auf den Weg.
Seine schlotternden Tränensäcke straffen sich im gleißenden Licht und begeistert nimmt Kruse eisige Felslandschaften wahr. Die unfassbare Schönheit arktischer Natur versöhnt seine Seele.
Seine ehemals fahrigen feuchten Finger lernen schnell. Das Lenkrad vom Ski-Doo liegt fest in den Händen, die bis vor Kurzem nur Tastaturen und Handys kannten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese bei der Robbenarbeit zuverlässig anpacken werden.
Aufgeregte Huskies begleiten seine heutige Fahrt über das Eis zum Wasserloch, an dem er nach Robben jagen will. Jaulend und bellend vor Freude über die angekündigte Ausfahrt, lassen sich die vierpfotigen Kameraden ins Geschirr legen. Die Jagd durch die Schneelandschaft beginnt. Nur noch das Fahrgeräusch des Ski-Doos unterbricht die majestetische Ruhe der Gegend.
Ich, der Jäger und Sammler, sein angedeutetes Schmunzeln verliert sich hinter winzigen Eiszapfen, die sich in seinem Vollbart gebildet haben und er lässt die rauschhafte Schönheit der Eisregion, über der sich jetzt ein Himmel wölbt, der wie eine Fata Morgana mit betörenden Farben lockt, ein neues Lebensgefühl vermitteln.
Steller hatte ihm wieder geschrieben. Von Tokio aus will er über die Diomedes Inseln nach Hause fliegen.
Wer weiß, wann oder ob man sich sonst wiedersehen wird, mailte er ihm vor Tagen.
Kruse freut sich auf den einzigen Freund, er muss ihm viel von den letzten Wochen erzählen.
Das Wasserloch, an dem die Robben von Zeit zu Zeit nach Luft schnappen, liegt einige Kilometer vom Inuitdorf entfernt. Das zeitige Frühjahr bewirkt, das die Schneeschmelze früher einsetzt. Sommer in der Beringstrasse sind nur kurz und Kruse ist gespannt, wie das Packeis sich aufdriften wird, um stündlich neue Gebilde zu entwerfen. Er wird der einzige Gast auf dieser Kunstausstellung sein. Die Vernissage ist eröffnet.
Am Wasserloch angekommen, legen sich die Hunde sofort auf den Schnee. Für kurze Zeit hört Kruse noch ihr fiepen, schlucken und hecheln, dann kehrt Ruhe ein und ihre Köpfe schlummern zwischen festen Vorderpfoten.
Kruse selbst sitzt vor der dunklen Öffnung, beobachtet kleinste Bewegungen auf der glatten Wasseroberfläche, die nur von reflektierenden Sonnenblitzen glitzert.
Krusenstern! Krusensterne! Aus der Tiefe seiner Erinnerung hört er seine Tochter rufen. Papa, zeigst du mir wieder unseren Stern am Himmel?
Immer, wenn er nach langen Arbeitstagen zu Hause abzuschalten versuchte, erzählte er Christine etwas sentimental Geschichten vom Nordmeer und den Tschuktschen und dann wartete er sehnsüchtig auf ihre plappernden Worte: „Kommt Tschurken! Kommt nur! Da ist Papa's Krusenstern!“
Sanftes Beben auf dem Eis bewegt Kruse zum Aufblicken. Die Huskies sind schlagartig hellwach. Mit gespitzten Ohren wittern sie in Südrichtung. Das Beben lässt eine ungeheure Kraft ahnen, Motorengeräusch durchschneidet die weite Stille. Ein riesiger Atomeisbrecher nimmt genau die Richtung ein, in der Kruse sitzt. Adam packt flink seine Jagdutensilien auf das Ski-Doo, gibt den Hunden Befehle und setzt mit seinem Schneefahrzeug in Richtung Dorf zurück.
Plötzlich macht er wieder Halt. Er ist neugierig. Auf diesen Kraftkoloss von Schiff. Er sucht sich eine Anhöhe, lenkt die Hunde hinauf und bekommt einen Blick über die Fahrrinne, die das Schiff frei bricht. Aus seiner Perspektive erinnern ihn die Risse auf dem Eis an ein unregelmäßiges EKG. Zielsicher fährt der Eisbrecher durch das Packeis, nicht weit dahinter kommt ein zweites Schiff zum Vorschein. Ein typisches Kreuzfahrtschiff durchzieht die vorgezogene Furche von Flocken und Eis.
Am Bug findet sich eine bunte Menschenmasse zusammen, rufend klammern sie sich an die Reling. Ihre „Aaahs“ und „Ooooh's“ liegen fett auf der kalten Polarluft und unerwartet für Kruse, zeigt plötzlich ein Finger in seine Richtung. Fotoapparate werden ausgepackt, surrende Filmkameras gesellen sich zu den „Aaaahs“ und „Oooohs“, eine in Bärenfell gekleidete Frau winkt mit einem Tuch in seine Richtung.
Adam Kruse sieht sich um. Vielleicht ein Eisbär? denkt er, und vor lauter Beobachten bemerke ich nichts? Aber nichts dergleichen entdeckt sein suchender Blick. Das Spektakel gilt ihm.
Ja, ich bin ihr Objekt. Eine willkommene Abwechselung auf ihrer Tagestour – all inklusive! In Kruse steigt Ärger auf.
Mit lautem „Ho! Ho! Ho!“ feuert er die Hunde an, startet sein Ski-Doo und steuert es Richtung Dorf.
Bis hierher verfolgen sie mich, diese diese – ach! Kruse kneift seine Lippen zusammen und mit rasender Geschwindigkeit nähert er sich seiner Inuitsiedlung. Die Kufen zischen über den Schnee.
Den Riss im Eis bemerkt er zu spät. Der ist so breit, dass er mit dem Ski-Doo hängen bleibt. Auf einer bizarr glitzernden Treibeismasse bleibt er halb betäubt liegen. Entfernt hört er, wie seine Huskies in ein vereintes Heulen und Bellen einstimmen. Er schließt seine Augen und Steller, sein alter Kumpel Willi Steller taucht auf. Dann wird alles schwarz.
Dabei wollte er ihm doch erzählen, das er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
(c)
jbs 2ooozwölf
Stichworte: Burn-Out-Gesellschaft - Innere Kündigung - Neuanfang - Zeitzone - Diomedes Inseln - Freundschaft - Beringstrasse
Aus meiner Facebook-Nachbarschaft linke ich ein Video ein und ich hoffe, es ist hier aufrufbar. Es zeigt den Eisgang vor Schlüttsiel in der Nordsee vom 16.02.2012.
Dieses Video war für mich die Inspiration, einen etwas älteren Text aus meinen Textgeburten hervorzukramen und ihn hier online zu stellen.
https://www.youtube.com/watch?v=8yNOuPSceaM
lou-salome - 16. Feb, 14:38