Oktoberplatz
Oktoberplatz
Wahrlich meisterhaft geschrieben!
Martin von Arndt erzählt in seinem neuen Roman „Oktoberplatz“ eine äußerst spannungsreich auskalkulierte Story über die politische Entwicklung Weißrusslands und charakterisiert dessen Hintergründe souverän. Und das Ganze in seiner so typischen Art und Weise, Prosa lyrisch zu untermalen. Und von Arndt wäre nicht von Arndt, würde er nicht wieder einen tragischen Helden für seine Geschichte auswählen.
Wasil Mikalajewitsch prägt diese Rolle und der Autor nimmt den Leser mit nach Hrodna, dem Städtchen im Belarus, in dem Wasil 1974 geboren wird. Er wächst dort mit drei, fast gleichaltrigen, Tantchen auf, mit denen er nacheinander in inzestuösen Verhältnissen leben wird. „Skandal“ möchte man anfangs meinen. Was für ein „Skandal“. Nicht nur einen Mord an eine der Tanten klügelt er aus, nein, er stürzt sich auch noch in sexuelle Abhängigkeiten.
Nachdem seine engste Bezugsperson, der Großvater Istvan, wegen abnormen Alkoholkonsums tödlich verunglückt, die Familie nach der Bestattung eine Neuorientierung sucht, findet Wasil in einem Garagenversteck das Vermächtnis seines Vaters: „ … eine so große Summe Devisen, dass ich, für diesmal, nicht nur eine Augenbraue hob. Dann lag da noch ein Zettel, auf den Vater in Großbuchstaben geschrieben hatte. 'Mach was aus deinem Leben. Am besten hau ab von hier'.“
Wasil's Gedanken fangen an „wie in einem Elektronenbeschleuniger die Arbeit aufzunehmen“ und er stellt 1999 nach einer unruhigen Nacht fest: „Ich war siebzehn Jahre alt. Ich war frei. Und das Land meiner Geburt hatte aufgehört zu existieren.“
Er wird abhauen. Immer auf der Suche nach Heimat, Bodenständigkeit und Freiheit in den wirren Zeiten der Neuorientierung von Belarus und den postsowjetischen Nachbarstaaten.
In diesen Monaten übernimmt ein autokratischer Präsident die Regierungsarbeit und die Menschen im Belarus müssen sich, nachdem das Weißrussische schon von Stalin unterdrückt wurde, erneut einer Diktatur stellen.
Genau in dieser Zeit reist Wasil nach Ungarn aus, in das Land seiner Vorfahren. Auf dem Paßamt in Hrodna will der Beamte der Regierungsbehörde OWIR kein Verständnis für die Ausreise aufbringen, denn „ Jetzt wird hier endlich unsere Sprache gesprochen … und da kommen Sie daher, ein junger Mensch, und wollen weg.“
Seine Ausreise fällt in die zaghafte Wiedergeburt der weißrussischen Sprache, die, wie oft gedacht, kein Dialekt, sondern wie das Ukrainische, eine eigene ostslawische Sprache ist und als fast ausgestorben angesehen werden konnte. Russisch gilt als erste Amtssprache. Aber das interessiert Wasil nicht. Er ist ein Heimatsuchender, ein für die „Hiesigen kein Hiesiger.“
Wasil „ … kehrte zurück zu Großpapa, in Großpapas Land. Wie meine Landsleute: Alle kehrten wir zurück zu unseren Großvätern, Nur daß die anderen Belarussen das Land nie verließen, es kam einfach zu ihnen. Es kam über sie. Und die meisten haben es nicht einmal gewollt.“
Metaphern auf die politisch-geschichtlichen Hintergründe der sogenannten Präsidialrepublik Weißrusslands finden sich immer wieder, schon ganz zu Beginn des Romans, wenn von Arndt Zeilen aus der Songlyrik der russischen Musikband N.R.M.: „Drei Schildkröten“ zitiert:
„ Wenn du in der Kommunalka ( Gemeinschaftswohnung)
plötzlich die Ausdünstungen riechst
Und dich das Leben in den Schwitzkasten nimmt
Wirst du verstehen, daß nach wie vor
Drei Schildkröten diese Welt ziehen.
Warte nicht ab, es wird keine Überraschungen geben.“
Ein Bild will sich dann nach dem Lesen öffnen: Eine schildkrötenhaft langsame Entwicklung von politischen Troikas postsowjetischer Staaten. Stillstand von Entwicklungen nicht ausgeschlossen.
Oder eine Dreiecksgeschichte. Drei Schildkröten. Drei Republiken. Drei Tanten. Jede steht für ein Land. Marya für Polen, Tatsiana für Ungarn, Alezja für Belarus.
Und mittendrin der Antiheld Wasil Mikalajewitsch.
Aber zum Ende des Romans hin, lösen sich diese Interpretationsansätze in Luft auf. Denn ab Seite 219 taucht ein Gedicht von Thomas Wolfe aus „Tod, der stolze Bruder“ auf, welches als Schlüsselszene zum gesamten Werk angesehen werden kann.
„Sie kommen,
meine großen dunklen Pferde kommen!
Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe.
Die Pferde des Schlafs galoppieren,
galoppieren über das Land.“
Über diese Verse kommen sich Wasja und seine jüngste Tante Marya sehr nahe. Seelenverwandtschaft trifft den Kern. Wasja steht ab dem Zeitpunkt endgültig einem Wendepunkt in seinem Leben gegenüber. Er muss sich entscheiden.
Von da an überschlagen sich die Ereignisse. Wasja schreckt nicht zurück, einen Mord zu planen. Ein mitreißender Schluß.
Martin von Arndt hat mit diesem Roman erneut gezeigt, was für ein grandioser Erzähler er ist. Mit einer unglaublich farbigen, lyrischen und suggestiven Sprache beschwört er wunderbar poetische Bilder vor das Auge des Lesers, man möchte einzelne Textstellen ständig wiederholen.
Ein Lesegenuss!
jbs
22.Mai 2ooozwölf
Buch und Verlag:
https://www.vonarndt.de/pdf/oktoberplatz-vorschau.pdf
Trailer zum Buch:
https://www.youtube.com/watch?v=Mnj3frt9okc
Bucherwerb:
https://www.amazon.de/Oktoberplatz-Meine-gro%C3%9Fen-dunklen-Pferde/dp/3863510232/martinvonarndt
30.05.2012 nachgereicht:
Deutschlandfunk-Büchermarkt. Lerke von Saalfeld - Martin von Arndt - Ein Interview
https://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1769330/
Die kursiv geschriebenen Textstellen sind Zitate aus dem Buch "Oktoberplatz"
Wahrlich meisterhaft geschrieben!
Martin von Arndt erzählt in seinem neuen Roman „Oktoberplatz“ eine äußerst spannungsreich auskalkulierte Story über die politische Entwicklung Weißrusslands und charakterisiert dessen Hintergründe souverän. Und das Ganze in seiner so typischen Art und Weise, Prosa lyrisch zu untermalen. Und von Arndt wäre nicht von Arndt, würde er nicht wieder einen tragischen Helden für seine Geschichte auswählen.
Wasil Mikalajewitsch prägt diese Rolle und der Autor nimmt den Leser mit nach Hrodna, dem Städtchen im Belarus, in dem Wasil 1974 geboren wird. Er wächst dort mit drei, fast gleichaltrigen, Tantchen auf, mit denen er nacheinander in inzestuösen Verhältnissen leben wird. „Skandal“ möchte man anfangs meinen. Was für ein „Skandal“. Nicht nur einen Mord an eine der Tanten klügelt er aus, nein, er stürzt sich auch noch in sexuelle Abhängigkeiten.
Nachdem seine engste Bezugsperson, der Großvater Istvan, wegen abnormen Alkoholkonsums tödlich verunglückt, die Familie nach der Bestattung eine Neuorientierung sucht, findet Wasil in einem Garagenversteck das Vermächtnis seines Vaters: „ … eine so große Summe Devisen, dass ich, für diesmal, nicht nur eine Augenbraue hob. Dann lag da noch ein Zettel, auf den Vater in Großbuchstaben geschrieben hatte. 'Mach was aus deinem Leben. Am besten hau ab von hier'.“
Wasil's Gedanken fangen an „wie in einem Elektronenbeschleuniger die Arbeit aufzunehmen“ und er stellt 1999 nach einer unruhigen Nacht fest: „Ich war siebzehn Jahre alt. Ich war frei. Und das Land meiner Geburt hatte aufgehört zu existieren.“
Er wird abhauen. Immer auf der Suche nach Heimat, Bodenständigkeit und Freiheit in den wirren Zeiten der Neuorientierung von Belarus und den postsowjetischen Nachbarstaaten.
In diesen Monaten übernimmt ein autokratischer Präsident die Regierungsarbeit und die Menschen im Belarus müssen sich, nachdem das Weißrussische schon von Stalin unterdrückt wurde, erneut einer Diktatur stellen.
Genau in dieser Zeit reist Wasil nach Ungarn aus, in das Land seiner Vorfahren. Auf dem Paßamt in Hrodna will der Beamte der Regierungsbehörde OWIR kein Verständnis für die Ausreise aufbringen, denn „ Jetzt wird hier endlich unsere Sprache gesprochen … und da kommen Sie daher, ein junger Mensch, und wollen weg.“
Seine Ausreise fällt in die zaghafte Wiedergeburt der weißrussischen Sprache, die, wie oft gedacht, kein Dialekt, sondern wie das Ukrainische, eine eigene ostslawische Sprache ist und als fast ausgestorben angesehen werden konnte. Russisch gilt als erste Amtssprache. Aber das interessiert Wasil nicht. Er ist ein Heimatsuchender, ein für die „Hiesigen kein Hiesiger.“
Wasil „ … kehrte zurück zu Großpapa, in Großpapas Land. Wie meine Landsleute: Alle kehrten wir zurück zu unseren Großvätern, Nur daß die anderen Belarussen das Land nie verließen, es kam einfach zu ihnen. Es kam über sie. Und die meisten haben es nicht einmal gewollt.“
Metaphern auf die politisch-geschichtlichen Hintergründe der sogenannten Präsidialrepublik Weißrusslands finden sich immer wieder, schon ganz zu Beginn des Romans, wenn von Arndt Zeilen aus der Songlyrik der russischen Musikband N.R.M.: „Drei Schildkröten“ zitiert:
„ Wenn du in der Kommunalka ( Gemeinschaftswohnung)
plötzlich die Ausdünstungen riechst
Und dich das Leben in den Schwitzkasten nimmt
Wirst du verstehen, daß nach wie vor
Drei Schildkröten diese Welt ziehen.
Warte nicht ab, es wird keine Überraschungen geben.“
Ein Bild will sich dann nach dem Lesen öffnen: Eine schildkrötenhaft langsame Entwicklung von politischen Troikas postsowjetischer Staaten. Stillstand von Entwicklungen nicht ausgeschlossen.
Oder eine Dreiecksgeschichte. Drei Schildkröten. Drei Republiken. Drei Tanten. Jede steht für ein Land. Marya für Polen, Tatsiana für Ungarn, Alezja für Belarus.
Und mittendrin der Antiheld Wasil Mikalajewitsch.
Aber zum Ende des Romans hin, lösen sich diese Interpretationsansätze in Luft auf. Denn ab Seite 219 taucht ein Gedicht von Thomas Wolfe aus „Tod, der stolze Bruder“ auf, welches als Schlüsselszene zum gesamten Werk angesehen werden kann.
„Sie kommen,
meine großen dunklen Pferde kommen!
Mit dem sachten und rauschenden Innern ihrer Hufe.
Die Pferde des Schlafs galoppieren,
galoppieren über das Land.“
Über diese Verse kommen sich Wasja und seine jüngste Tante Marya sehr nahe. Seelenverwandtschaft trifft den Kern. Wasja steht ab dem Zeitpunkt endgültig einem Wendepunkt in seinem Leben gegenüber. Er muss sich entscheiden.
Von da an überschlagen sich die Ereignisse. Wasja schreckt nicht zurück, einen Mord zu planen. Ein mitreißender Schluß.
Martin von Arndt hat mit diesem Roman erneut gezeigt, was für ein grandioser Erzähler er ist. Mit einer unglaublich farbigen, lyrischen und suggestiven Sprache beschwört er wunderbar poetische Bilder vor das Auge des Lesers, man möchte einzelne Textstellen ständig wiederholen.
Ein Lesegenuss!
jbs
22.Mai 2ooozwölf
Buch und Verlag:
https://www.vonarndt.de/pdf/oktoberplatz-vorschau.pdf
Trailer zum Buch:
https://www.youtube.com/watch?v=Mnj3frt9okc
Bucherwerb:
https://www.amazon.de/Oktoberplatz-Meine-gro%C3%9Fen-dunklen-Pferde/dp/3863510232/martinvonarndt
30.05.2012 nachgereicht:
Deutschlandfunk-Büchermarkt. Lerke von Saalfeld - Martin von Arndt - Ein Interview
https://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1769330/
Die kursiv geschriebenen Textstellen sind Zitate aus dem Buch "Oktoberplatz"
lou-salome - 22. Mai, 00:56